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 Der verkaufte Schlaf - Hans und Jakob

 

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Ein modernes Märchen

 von

Werner Dück und IVOSUN

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Anwaltlich hinterlegt bei RA Holger von Hartlieb

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Das ausschnittsweise oder gesamte Kopieren des Textes ist untersagt bzw. nur nach Rücksprache mit Werner Dück möglich.

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Es war einmal ein kleiner Junge namens Hans. Der lebte glücklich und zufrieden an einem wunderbaren Ort. Alles, was er brauchte, ob Essen oder Trinken, mußte er sich einfach nur nehmen. Es war ein Ort, wie man ihn sich schöner gar nicht vorstellen konnte. Es war alles da, all die Spielsachen und Spielplätze, die Seen und Wiesen zum Baden und Herumtollen. Alles das, was sich ein kleiner Junge wünschte. Hatte er mal einen besonderen Wunsch, ging er noch im selben Moment in Erfüllung, in dem er ihn aussprach. Hans war auch nicht allein, wie man nun vielleicht vermuten könnte. Nein, es gab viele andere Kinder, mit denen er den ganzen lieben langen Tag spielte.

Eigentlich war alles perfekt.

Hans hatte wie jeder Junge an dem Ort einen besten Freund. Der hieß Jakob. Stundenlang konnten sie miteinander spielen und herumtollen. Jakob war sehr phantasievoll und erfand ständig neue Spiele. Hans war dann derjenige, der sich die genauen Spielregeln dazu ausdachte. Sie hatten viel Spaß miteinander und waren beide sehr glücklich. Sie lebten völlig unbeschwert in den Tag hinein.

Wie gesagt, an dem Ort war eigentlich alles perfekt.

Nur etwas erregte die Neugierde der Kinder und rief großes Unbehagen hervor. Denn auch wenn ihnen das Gefühl der Angst unbekannt war, diese Geschichte ließ sie Unheilvolles ahnen. Es gab dort nämlich eine eigenartige Türe. Keiner wußte genau, was es mit dieser Türe auf sich hatte. Sie ließ sich nicht öffnen, es gab keine Klinke. Immer wieder aber sahen die Kinder, wie eines ihrer Freunde plötzlich durch die Türe hinaus verschwand und nie mehr zurückkehrte. So rankten sich wilde Gerüchte um diese Türe.

Hans kümmerte sich normalerweise nie um diese Türe. Er spielte viel lieber mit seinem Freund Jakob, dachte sich mit ihm zusammen tolle Spiele aus und machte einfach einen großen Bogen um die Türe. Bis ihn Jakob eines Tages fragte, ob er auch so neugierig sei, was sich hinter ihr verberge.

Hans erschrak im ersten Moment, schüttelte dann verneinend den Kopf, murmelte, das würde ihn überhaupt nicht interessieren, und spielte weiter. Jakob jedoch war von dem Moment an wie besessen von der Türe, er wollte unbedingt wissen, was sich hinter ihr verbarg. Er konnte von nichts anderem mehr reden, ständig fragte er all die anderen Kinder, ob sie etwas über diese Türe wüßten. Natürlich wußte keiner etwas wirklich genaues, es war ja noch nie einer zurückgekehrt.

Nur etwas wiederholten alle: immer wenn ein Kind laut sagte, es wolle nun endlich wissen, was hinter der Türe sei, dann ging sie auf und das Kind verschwand durch sie hindurch auf Nimmerwiedersehen. Obwohl Jakob dieser Satz nun ständig auf der Zunge herumhüpfte, hütete er sich davor, ihn laut auszusprechen. Er war sich noch nicht sicher, ob er wirklich schon das Geheimnis der Türe erkunden wollte. Etwas hielt ihn noch zurück.

Doch eines Tages, es war noch früh am Morgen, Hans wollte Jakob gerade überreden, sich endlich wieder ein neues Spiel auszudenken, da stand Jakob mit einem Mal auf und sagte: "Das ist es!" Er dankte Hans, drückte ihn fest an sich und rief dann so laut, daß ihn alle hören konnten: "Ich will nun wissen, was hinter der Türe ist."

Im selben Moment öffnete sich die Türe und Jakob schritt wie von Geisterhand geführt durch sie hindurch. Kaum war er draußen, war sie auch schon wieder zu und alles wirkte wie zuvor. Hans stockte der Atem. Er wollte Jakob noch zurückhalten, doch er konnte sich weder rühren, noch einen Ton sagen. Wie angewurzelt stand er da und sah seinem Freund tatenlos hinterher.

Was passierte mit Jakob, wo war er hin, würde er je wiederkommen? Würden sie sich je wieder sehen, je wieder gemeinsam Spiele ausdenken? Die nächsten Tage saß Hans einsam herum. Die Lust am Spielen war ihm vergangen und er verfiel in eine tiefe Trauer. Seine Gedanken kreisten immer und immer wieder um seinen Freund, wo er nun wohl war, wie es ihm ginge? Und schließlich fragte er sich selbst, was es wohl mit dieser Türe auf sich hatte.

Die anderen Kinder versuchten unterdes, ihn wieder aufzuheitern, ihn zum Spielen zu überreden. Doch er wollte nicht spielen. Er wollte nun seinerseits all die Geschichten über die Türe hören. Und was sie ihm alles erzählten! Wie schon bei Jakob zuvor hatte jeder eine andere Schreckensversion zu der Türe. Jedes neue Schauermärchen stürzte Hans in noch größere Verwirrung, bis sein Kopf so sehr schwirrte, daß er sich eines Tages plötzlich selbst laut sagen hörte:

"Ich möchte nun wissen, was hinter dieser Türe ist!"

Im selben Moment öffnete sich die Türe und wie schon Jakob zuvor wurde Hans wie von Geisterhand hinausgeführt. Noch ehe er wahrnahm, wer ihn da führte und wohin, war die Türe schon wieder geschlossen und niemand ward weit und breit zu sehen. Hans stand mutterseelenallein auf einer großen Wiese. Sie erinnerte ihn ein wenig an die Wiese, auf der er mit Jakob so gerne herumgetollt hatte. Aber etwas war anders. Er spürte es, irgend etwas war anders.

 

Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken runter. Wo war er nur? Warum hatte er nur diesen Satz gesagt? Er wollte doch seinen Ort eigentlich gar nicht verlassen. Es war doch so schön dort! Da gab es alles und vor allem, er kannte alles. Hans wollte sich gerade Vorwürfe machen, als er jemanden auf sich zulaufen sah.

Oh ein Neuer, hörte er den Mann sagen. Der nahm ihn hektisch an der Hand und zog ihn aufgeregt an den Rand der Wiese. Hans sah, daß dort viele Menschen versammelt waren. Jeder beschäftigte sich mit irgend etwas und schien es furchtbar wichtig zu haben. Es herrschte eine ungeheure Hektik und Betriebsamkeit. Im nächsten Moment hörte er laute Stimmen, die von überall herzukommen schienen. Dann folgte absolute Ruhe, ein Pfiff und plötzlich stürmten große Männer aus zwei gegenüberliegenden Ecken zur Mitte der Wiese.

Hans sah jetzt auch die vielen Linien auf der Wiese, nur konnte er sich keinen Reim darauf machen, was sie zu bedeuteten hatten. So setzte er sich nieder, um dem Treiben zuzuschauen. Kaum hatte er es sich gemütlich gemacht, wurde er barsch angeraunzt, er solle sich gefälligst wo anders plazieren. Hier sei er im Weg. Hans murmelte verstört eine Entschuldigung und stolperte ein paar Schritte weiter. Zu gern hätte er gewußt, wo er überhaupt war. Doch er traute sich niemanden fragen, alle schienen so beschäftigt. Kurz darauf hörte er wieder einen lauten Pfiff und sah dann die Männer wie wild hinter einem Ball herlaufen.

Niemals zuvor sah er ein solches Spiel an seinem Ort zuhause. Fasziniert beobachtete er das Spielgeschehen, als ihn beinahe jemand von hinten umrannte. Er solle nicht so dumm rumstehen, ob er denn nichts zu tun habe, raunzte der ihn an. Voller Verzweiflung platzte es nun aus ihm heraus. Wo er denn hin solle, und was er überhaupt machen solle. Außerdem wüßte er gerne, wo er sei?

Ach ein Neuer, hörte er den Mann sagen. Ob er denn schon einen Schlafplatz habe? Hans schüttelte den Kopf und fragte, warum man das haben müsse. Bei ihm zuhause habe man einfach da geschlafen, wo man gerade müde war. Sobald man müde war, war einfach ein Bett da. Wie es denn hier sei? Der Mann lachte, ein Bett einfach so, irgendwo, wo man gerade müde war? Hans würde wohl träumen, so etwas konnte er nicht glauben.

Nun gut, entgegnete der Mann, hier sei es anders. Hier gäbe es nur dann ein Bett, wenn man es sich leisten konnte. Sprich, wenn er etwas dafür tue. Ob er denn schon eine Arbeit habe, fragte er weiter. Hans konnte mit dem Wort 'Arbeit' wieder nichts anfangen und so merkte der Mann, daß Hans ein ganz Neuer war. Nun wies er ihn an, ihm einfach zu folgen.

Sie gingen zu einer Türe, die in das Innere des Baus um die Wiese herum führte. Bevor sie die Türe hinter sich schlossen, sagte der Mann zu Hans: "Schau noch mal zurück. Wer weiß, wann du wieder Gelegenheit hast, die Sonne zu sehen." Dann stiegen Sie eine Treppe hinab. Sie stiegen und stiegen, Stockwerk für Stockwerk. Mit jedem Stockwerk wurde das Licht schwächer. Endlich, als es schon fast ganz dunkel war, gelangten sie unten an.

Der Mann führte Hans zu einem großen Raum mit vielen Betten. An der anderen Seite des Raumes waren Tische, an denen viele Kinder saßen und irgend etwas taten. Der Mann deutete auf eines der Betten und sagte Hans, daß dieses nun sein Bett sei. Dann führte er ihn zu den Tischen und stellte ihm einen Jungen vor. Der Junge hieß Victor, und er sollte ihm zeigen, was er zu tun habe. Darauf verschwand der Mann wieder und ließ Hans zurück.

Victor übernahm sofort sein Amt als Einweiser. Er erklärte Hans, daß er Schuhe putzen müsse und zwar die Schuhe von Spielern, d.h. in seinem Fall von Nachwuchsspielern, denn er dürfe noch keine echten Spielerschuhe putzen. In einer etwas hochnäsigen Art erklärte er Hans, wie er es zu machen habe. Zuletzt demonstrierte er kurz die Technik des Bürstens und Cremens, drückte Hans ein paar Schuhe in die Hand und ließ ihn alleine zurück. Er müsse nun dringend nach oben, verkündete er mit stolzgeschwellter Brust, Spielerschuhe putzen.

Hans setzte sich an einen freien Platz und fing an, wie geheißen die Schuhe zu putzen. Doch wie sehr er sich auch mühte, wie sehr er auch putzte, wienerte, cremte und polierte, die Schuhe wollte nicht annähern so glänzen, wie die von Victor. Als der von oben zurückkam, beschimpfte er Hans lautstark, ob er denn nicht aufgepaßt habe und ob er sich immer so dumm anstelle.

Hans schossen Tränen in die Augen, er fühlte sich elend und klein. Da hatte er sich so gemüht und erntete doch nur Hohn und Spott. Doch er wollte sich bessern, gelobte er. Am Abend bekam er zu essen und zu trinken, dann legten sich alle gemeinsam schlafen. Sein Bettnachbar flüsterte ihm heimlich zu, daß es ihm anfangs genauso ergangen war. Das machen sie mit allen Neuen so, sagte er. Zum Glück hatte er damals jemanden, der ihm die wichtigsten Techniken beibrachte. Wenn Hans wollte, so könnte er ihm gerne ein paar Tricks zeigen. Hans dankte ihm für seine Unterstützung, dann schliefen sie ein.

In den folgenden Tagen lehrte Ihm sein neuer Freund alles, was er wußte. Nach einer Woche konnte Hans die Schuhe zumindest so gut putzen, daß sich keiner mehr beschwerte und er sogar schon ein Kompliment erhielt. Angespornt von dem Kompliment, entwickelte er seine eigenen Methoden, und wurde immer besser und besser.

Manchmal, abends nach der Arbeit, machte er mit ein paar Jungen aus dem Raum kurze Spiele. Meistens aber waren sie zu müde, so daß sie nur selten Spaß daran hatten. Ab und an, kurz vor dem Schlafengehen, dachte Hans zurück an sein Zuhause, und dann fragte er sich wehmütig, warum er jemals wissen wollte, was hinter der vermaledeiten Türe war. Er konnte nicht glauben, daß er jemals von dort weg wollte. Mit den anderen traute er sich darüber nicht sprechen, auch hörte er sie niemals darüber reden. An solchen Abenden wiegte er sich dann traurig in den Schlaf.

Am meisten vermißte er die Sonne und das Herumtollen auf der Wiese, doch man versicherte ihm, daß er noch nicht genug gearbeitet hätte, um sich das "Oben" verdient zu haben. Eines Tages wollte er wissen, warum denn die Schuhe immer so schmutzig seien. Daraufhin wurde ihm zur Strafe das Abendessen gestrichen und er mußte mit hungrigem Magen zu Bett. Sein Bettgenosse brachte ihm später ein Stück Brot mit und erklärte, daß er niemals danach fragen dürfte, er selbst wisse es bis heute nicht.

Kurze Zeit später hörte er von einem Jungen, der die Schuhe auf wundersame Weise reinigen solle. Er schaue sie nur an, blase sanft und doch mit Nachdruck darüber und die Schuhe würden wieder blitzblank erscheinen, hieß das Gerücht. Doch keiner wußte, wo der Junge war, noch wie er hieß.

So gingen fast zwei Jahre ins Land. Hans verbesserte seine Technik mehr und mehr, oft machte er Überstunden und wenn die anderen schon schliefen, dann probierte er neue Kniffe aus. Er verbesserte sogar die Schuhcremes, so daß die Schuhe noch strahlender glänzten. Manchmal überkam ihn in seinem Eifer der Schlaf. Kopfüber sank er dann auf seine Schuhe nieder und schlief darauf ein. Wenn ihn am nächsten Morgen die anderen Kinder weckten, machten sie sich zunächst über die Abdrücke lustig, welche die Schuhe in seinem Gesicht hinterlassen hatten. Doch sobald sie seine strahlend geputzten Schuhe sahen, verstummte ihr Spott.

Mittlerweile waren wieder neue Kinder gekommen, die Hans nun seinerseits mit viel Eifer und Hingabe anlernte. Er war zu einem der obersten Schuhputzer aufgestiegen, die für die Schuhe der ersten Spieler verantwortlich waren. So geschah es, daß er zu dem Mann gerufen wurde, der ihn seinerzeit auf dem Spielfeld aufgelesen hatte. Dieser Mann verkündete Hans nun feierlich, daß die Spieler auf seine herausragenden Leistungen aufmerksam geworden seien und ihn als ihren Leibschuhputzer wünschten.

Hans schossen Freudentränen in die Augen. Gleichzeitig war er unheimlich aufgeregt, denn das bedeutete, daß er endlich wieder nach oben, wieder ans Licht durfte. Zwar jeweils nur für kurze Zeit zu den Spielen, aber immerhin er durfte die Sonne wieder sehen. Wie oft hatte er davon in den letzten zwei Jahren geträumt? Wie oft wünschte er sich zurück in sein Zuhause, wo er nach Lust und Laune herumtollen konnte? Und wie oft hatte er sich dafür verwunschen, jemals diese schicksalsträchtige Frage nach der Türe gestellt zu haben? Doch nun, durch diese Anerkennung fühlte er sich zum ersten Mal wieder so richtig glücklich.

Als er sich an diesem Abend zu Bett legte, wurde ihm plötzlich bewußt, daß er ab jetzt seine Tricks und seine kleinen Kunstkniffe nicht mehr weitergeben durfte. Zuletzt könnte einer seiner Schüler besser sein als er und dann dürfte der an seiner Stelle nach oben. So behandelte er die Neuen fortan mit einer gewissen Hochnäsigkeit und Distanz. Er zeigte ihnen nur ein paar Dinge, die wichtigen Kleinigkeiten dagegen behielt er für sich, so daß die Schuhe der Neuen niemals so aussahen, wie die seinen.

 

Als der Tag seines ersten Spieleinsatzes anbrach, war er ganz aufgeregt. Sein Magen drehte sich, er zitterte am ganzen Körper. Als man ihn endlich abholte, rannte er sofort voller Freude los. Die Warnungen, sich die Hände vor die Augen zu halten, da er die Sonne über zwei Jahre lang nicht mehr gesehen hatte, überhörte er. Und so stolperte er zur Türe hinaus und fiel, geblendet von dem grellen Licht, der Länge nach zu Boden. Dabei schlug er so heftig mit der Nase auf, daß das Blut zu allen Seiten spritzte.

Zu seinem Pech traf ein kleiner Spritzer den Schuh des Starspielers seiner Mannschaft. Sofort beschwerte sich dieser lautstark beim Trainer über den tölpelhaften Jungen. Man solle ihn gleich wieder nach unten schicken, so etwas könne man hier oben nicht gebrauchen. Der Trainer konnte ihn aber zum Glück schnell beruhigen, er sei doch der Junge, der die Schuhe so außergewöhnlich glänzend putze.

Na gut, dann solle dieser Maulwurfstölpel zeigen, was er könne, knurrte der Spieler in barschem Ton und hielt Hans den beschmutzen Schuh hin. Der eilte vor Aufregung zitternd mit seinen Lappen und Bürsten herbei, doch so sehr er sich auch mühte, er konnte nichts sehen. Zu grell war das Tageslicht für seine Augen. Mit Tränen in den Augen sah er zu dem Spieler hoch und wollte aufgeben. Da setzte ihm jemand von hinten eine Sonnenbrille auf. Er solle die nehmen. Die habe ihm seinerzeit ein anderer Junge gegeben und sie habe ihm anfangs gute Dienste geleistet, hörte er eine wohl vertraute Stimme.

Es war Jakob. Hans drehte sich um und strahlte übers ganze Gesicht. Er wollte ihm schon um den Hals fallen, doch Jakob bremste seine Freude und gemahnte ihn, erst die Schuhe des Spielers zu putzen. Wie besessen stürzte sich Hans auf die Schuhe und nach kurzer Zeit erstrahlten sie noch schöner als zuvor. Der Spieler zeigte sich zufrieden und trippelte aufs Spielfeld.

Er habe ja ein paar tolle Tricks drauf, lobte Jakob voller Anerkennung. Hans bedankte sich für das Kompliment und wollte nun endlich wissen, wie es ihm denn ergangen wäre. Jakob schwärmte, wie schön und toll alles sei, wie sehr er alles genieße. Welche Freude es ihm bereitete, das Schuhputzen zu erlernen, und wie froh er doch war, durch die Türe gegangen zu sein. Er sei so glücklich mit seiner Entscheidung, den Satz gesagt zu haben, er habe es noch keine einzige Sekunde bereut.

Hans lauschte stumm den Worten seines Freundes. Warum konnte er selbst nicht so empfinden? Traurig erzählte er Jakob, daß er sich schon oft gewünscht hatte, den Satz nicht gesagt zu haben, daß er gerne in seinem alten Zuhause wäre. Der bedauerte seine Einstellung und fragte ihn, ob er denn nicht sähe, daß er hier viel mehr Möglichkeiten habe.

In ihrem früheren Zuhause hätte es keinerlei Herausforderungen gegeben. Alles, was sie wollten, bekamen sie, einfach so. Hier dagegen müßten sie sich einsetzen, sie müßten kämpfen und dabei könnten sie so vieles über sich und das Leben erfahren. Im Grunde sei ihr altes Zuhause langweilig gewesen, hier dagegen sei das wahre Spiel. Hans wollte noch etwas darauf erwidern, doch da mußte er zur Pause und die Schuhe der Spieler putzen.

Sie waren furchtbar schmutzig und Hans hatte alle Hände voll zu tun. Es gelang ihm, sie bis zum Ende der Pause wieder sauber zu bekommen, und all die Spieler waren sehr zufrieden mit ihm. Gleich nach der Pause mußte er wieder nach unten, zu den anderen "Maulwurfskindern", wie die Spieler sie abfällig nannten. Hans grämte sich über den Namen, schließlich machte er doch ihre Schuhe sauber und er empfand das als eine sehr wichtige Aufgabe.

So ging das wochen-, ja monatelang. Bei jedem Spiel wurde er nach oben gerufen, um in der Pause die Schuhe der Spieler zu reinigen. Oft erhielt er dabei Komplimente, und jedesmal durchströmte ihn dann ein ungeheures Glücksgefühl. Sagte ein Spieler jedoch nichts, fühlte er sich schlecht. Eine Zeitlang führte er sogar eine Strichliste. Hatte er mehr Komplimente als stumme Kommentare bei einem Spiel erhalten, war es ein glücklicher Tag für ihn.

Jakob sah er oft bei den Spielen und jedesmal stellte er ihm Fragen. Irgendwann wollte er endlich wissen, was die Spieler überhaupt spielten. Jakob wurde plötzlich ganz leise und sah sich vorsichtig um. Zunächst einmal, flüsterte er, solle er niemals einen Spieler oder jemand anderen danach fragen. Es war ungeschriebenes Gesetz, daß die Putzkinder nie danach fragen durften. Wer laut fragte, wurde wieder nach unten verbannt.

Dann erklärte er ihm, daß er es auch noch nicht so ganz herausgefunden habe. Er wisse nur, daß die Spieler um einen Ball kämpften und daß sie versuchen mußten, den Ball in das Tor der anderen Mannschaft zu schießen. Doch Jakob wußte weder nach welchen Regeln, noch warum sie das taten. Er wußte auch nicht, warum es verboten war, nach den Regeln zu fragen.

Hans nutzte nun jede Gelegenheit, um das Spiel zu erkunden. Wenn er sich früher so gut Regeln ausdenken konnte, dachte er sich, dann konnte er vielleicht auch die Regeln von anderen Spielen herausfinden. Immer wieder glaubte er, sie verstanden zu haben, doch dann ereignete sich wieder etwas, worauf seine Regel nicht paßte. Er studierte sie fast ein halbes Jahr lang, kam aber nie ganz dahinter.

Sein Interesse am Spiel blieb den Spielern nicht verborgen. Als er eines Tages wieder voller Aufmerksamkeit das Spiel verfolgte, packte ihn einer der Spieler am Kragen und zerrte ihn vor die versammelte Mannschaft. Hans wollte sich schon wehren, doch als er den Spieler erkannte, durchfuhr es ihn. Es war Victor, sein alter Lehrmeister, der in seiner überheblichen Art sofort lauthals lospolterte. Sieh an, sieh an, ein Maulwurf will Spieler werden. Er solle doch erst mal so putzen lernen, wie dieser Junge da, und deutete dabei auf Jakob, dann könne er darüber nachdenken, ein Spieler zu werden. "Nur Auserwählte werden Spieler!" raunzte er Hans an.

Zum erstenmal beobachtete er, wie Jakob Schuhe putzte. Der nahm sachte den Schuh in die Hand, schaute ihn von allen Seiten an, schloß die Augen, konzentrierte sich und blies in einer sanften und doch kräftigen Art darüber. Dann reichte er den Schuh freudestrahlend dem Spieler zurück. Dieser nahm in dankbar entgegen, zog ihn an und strahlte glücklich und zufrieden.

Hans war verwirrt. Er, der jeden Schuh mit Hingabe und vollem Einsatz putzte, bei dem jeder Schuh wie neu aussah, mußte sich sagen lassen, er solle Schuhputzen lernen? Vor allem bemerkte er, daß Jakob dem Spieler seine Schuhe genauso schmutzig wieder zurückgab, wie er sie zuvor von ihm bekommen hatte.

Gleich beim nächsten Spiel fragte er Jakob nach seinem Geheimnis. Doch Jakob antwortete, er habe kein Geheimnis. Er versuche lediglich, jedem Schuh etwas besonderes zu verleihen. Wenn ein Spieler seinen Schuh anzöge, sagte er, möchte er etwas besonderes haben. Er möchte das Gefühl haben, mit diesem Schuh siegen zu können. Das sei es, was einen Spieler interessiere. Ob ein Schuh glänze oder nicht, sei dem Spieler völlig egal.

Hans traute seinen Ohren nicht. Da entwickelte er die ausgefeiltesten Techniken, um die Schuhe wieder glänzend zu kriegen, um sie sauberer als all seine Konkurrenten zu bekommen! Und diese seine Leistung interessiere niemanden? All die Arbeit, all die Überstunden für die Katz? Er schwor sich beim nächsten Spiel auch nur kurz drüber zu blasen und dann den Schuh freudestrahlend zurückzugeben.

Als er dem ersten Spieler seine Schuhe auf diese Weise überreichte, war der erst verdutzt, dann belustigt und dann, als er merkte, daß Hans es ernst meinte, wurde er wütend. Was er sich denn einbilden würde, ob das ein sauberer Schuh sein solle, für wen er sich halte? Hans versuchte sich zu verteidigen, der andere Junge mache das doch auch so. Daraufhin wurde der Spieler noch wütender. Lauthals brüllte er Hans vor all den anderen Spielern zusammen und schickte ihn wieder nach unten.

Zur Strafe mußte Hans ein halbes Jahr lang unten bleiben und dort die Schuhe polieren, erst dann erhielt er eine zweite Chance. Diesmal, so schwor er sich, würde er nicht mehr so dumm sein, auf Jakob zu hören. Ganz sicher lag er falsch mit seiner Meinung, die Spieler würden sich nicht wirklich für die Sauberkeit der Schuhe interessieren. Vielleicht konnten die Spieler, für die Jakob arbeitete, nicht gut sehen oder er hatte sie irgendwie bestochen. Vielleicht hatte ihm Jakob auch etwas verheimlicht.

Auf jeden Fall, da war sich Hans ganz sicher, würde er diesmal nicht versagen. Voller Innbrunst wienerte er die Schuhe der Spieler. Und wenn ihm Rücken und Knie noch so weh taten, er ignorierte den Schmerz und putzte weiter. Als Gegenleistung erhielt er unzählige Komplimente von den Spielern. Und jedes Kompliment spornte ihn zu noch mehr Fleiß an. Seine Finger waren abends oft blutig von dem vielen Putzen, doch ein kleines Kompliment eines Spielers und der Schmerz war vergessen. Hans fühlte sich im Glücksrausch.

Bis er eines Tages Victor wieder traf, den Spieler, der ihm seinerzeit sagte, er solle erst mal so putzen lernen wie Jakob, dann könnte er Spieler werden. Er war mittlerweile Starspieler geworden und als er Hans erkannte, verhöhnte er ihn, daß er noch immer ein Putzjunge sei. Er habe es ihm schon mal gesagt, rief er ihm in verächtlichem Ton zu: "Nur Auserwählte werden Spieler!"

Hans wollte nicht hinhören, er versuchte diesen Satz so schnell wie möglich zu vergessen. Doch egal, was er auch machte, der Satz hallte in seinen Kopf wider und wider: "Nur Auserwählte werden Spieler! Nur Auserwählte werden Spieler!" Er grämte sich bald so sehr, daß er an nichts anderes mehr denken konnte. Wie konnte er ein Auserwählter werden?

Genau in dieser Zeit hörte er unter den anderen Putzjungen immer wieder von einem Gerücht. Sie erzählten, wenn man etwas unbedingt wolle, so müsse man es nur laut aussprechen, dann würde sich eine Türe auftun, durch die man hindurchgehen müsse und der Wunsch sei erfüllt. Allerdings müsse man etwas dafür geben. Doch keiner wußte genau, was es war. Und wie schon bei der Türe in seinem alten zuhause rankten sich wilde Gerüchte um das, was man zu geben hatte.

Hans hatte auch nicht vergessen, welchen Schmerz und welche Entbehrungen er erdulden mußte, als er sein geliebtes Zuhause durch eine solche Türe verließ. So hütete er sich davor, ein zweites Mal ein solches Risiko einzugehen. Er wollte einfach Jakob beim nächsten Spiel fragen, vielleicht wußte er ja eine Lösung.

Doch bei den nächsten Spielen sah er ihn nicht. Schließlich fand er heraus, daß Jakob schon lange kein Putzjunge mehr war. Er war Spielanwärter geworden, das heißt er wurde nun zu einem Spieler ausgebildet. Warum nur war Jakob ein Auserwählter und er nicht, fragte sich Hans sofort. Tränen schossen ihm in die Augen und voller Wut und Enttäuschung beschloß er, nun auf alle Fälle ein Auserwählter zu werden. Koste es, was es wolle.

"Ich will ein Spielanwärter werden", sagte er laut. Im nächsten Moment tat sich eine Türe auf und wie von Geisterhand geführt schritt Hans durch sie hindurch. Plötzlich tauchte ein kleines Männlein hektisch herumwuselnd vor ihm auf. So so, sprach das Männlein mit hoher fisteliger Stimme, er wolle also Spielanwärter werden. Ja, antwortete Hans. Was er denn bereit sei, dafür zu geben, fragte das Männlein weiter. Was er denn geben müsse, antwortete Hans, dem allmählich Angst und Bange wurde.

"Eine Stunde Schlaf. Ich will eine Stunde Schlaf von dir!" sagte das Männlein laut mit festem Ton. Hans fiel ein Stein vom Herzen, da hatte er mit weiß Gott was schlimmem gerechnet, was er dafür geben müßte, und dann wollte der komische Kauz nur eine Stunde Schlaf. Da er eh nie gerne lang schlief, war der Handel schnell perfekt. Das Männlein, sagte ihm noch, was er nun zu tun habe. Wenn er alles genau so befolgen werde und darauf vertraue, dann werde er schnell zum Spieler. Zum Verlassen dieses Ortes müsse er jetzt sagen: "Ich bin ein Spielanwärter!" Und schon würde sich wieder die Türe auftun und er könne gehen.

Hans sagte den Satz, die Türe tat sich auf, er trat hindurch und schon war sie auch wieder verschwunden. Wie geheißen bastelte sich Hans aus alten Putzlappen und Schnürsenkeln einen Ball, und übte heimlich das Ballspiel. Er nutzte ab sofort jede freie Minute, um zu üben. Bei den Spielen klebte er gebannt am Spielfeldrand und schaute sich die Tricks der Spieler ab, die er dann abends heimlich für sich übte.

Die anderen Kindern wunderten sich, hatte er früher schon selten mit ihnen gespielt, spielte er nun überhaupt nicht mehr mit ihnen. Sie hatten sich daran gewöhnt und nannten ihn nur: "Den Eigenbrötler" oder "Den Sonderling". Hans ignorierte es, sofern er es überhaupt mitbekam, zu sehr war er mit sich und seinem Training beschäftigt. Die Stunde weniger Schlaf kam ihm zupaß, so konnte er länger üben.

Als er eines Tages wieder mal am Spielfeldrand das Spiel gebannt verfolgte, passierte es: ein Spieler verschlug einen Paß und der Ball flog direkt auf Hans zu. Der holte ohne zu überlegen mit dem rechten Bein aus und schoß den Ball quer über das Spielfeld direkt ins Tor. Das gesamte Stadion war mit einem Schlag mucksmäuschenstill. In diesem Moment erkannte Hans voller Entsetzen, was er gemacht hatte. Kreidebleich vor Angst mahlte er sich schon aus, wie er zur Strafe wieder jahrelang unten Schuhe putzen müßte, als urplötzlich tosender Applaus losbrach.

Die Spieler, denen er normalerweise die Schuhe putzte, rannten auf ihn zu, hoben ihn hoch und trugen ihn auf ihren Schultern durchs Stadion. So einen Schuß hatten sie schon lange nicht mehr gesehen. Alle jubelten Hans zu. Immer und immer wieder zeigten sie auf der großen Stadionleinwand seinen außergewöhnlichen Torschuß. Das Tor wurde zwar nicht anerkannt, aber Hans war der Held des Tages. Selbst Victor zwinkerte ihm anerkennend zu.

Am Ende des Spieles, Hans wollte gerade nach unten gehen, kam ein gewichtiger älterer Herr auf ihn zu. Er habe heute etwas gemacht, wofür er normalerweise nie mehr aus dem Maulwurfsbau herauskäme, sprach er. Aber er habe Talent gezeigt, großes Talent! Deshalb seien sie bereit, ihm eine Chance zu geben. Wenn er möchte, könne er Spielanwärter werden. Dann könnten sie sehen, ob er tatsächlich Talent habe und den Schuß von heute wiederholen könne.

Hans traten die Tränen in die Augen, sein größter Wunsch schien in Erfüllung zu gehen. Nun war er ein Auserwählter, Schuhputzzeug ade! Er willigte sofort ein und noch in der selben Nacht schlief er bereits einen Stock höher, bei den Spielanwärtern. Von seinen Freunden im Maulwurfsbau verabschiedete er sich nur kurz, und auch sie sagten nur ein leises "Tschüß".

Nur einer verabschiedete sich von Hans mit Tränen in den Augen. Es war Peter, sein erster Schüler, den er noch voller Eifer all seine Tricks gelehrt hatte, bevor ihm klar wurde, daß er sich damit Konkurrenz schaffen würde. Hans hatte ihn schon fast vergessen und freute sich um so mehr über seine Anteilnahme. Peter wünschte ihm viel Glück und freute sich darauf, schon bald seine Schuhe putzen zu dürfen.

 

Was Hans am meisten erfreute, bei den Spielanwärtern traf er Jakob endlich wieder. Herzlich fielen sich die beiden in die Arme. Wo er denn gewesen wäre, wollte Jakob wissen, keiner wollte ihm etwas über sein Verbleiben sagen und er sei plötzlich wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Hans druckste herum, er wollte nicht zugeben, daß er die Schuhe nicht wie Jakob putzen konnte. So redete er sich heraus, es sei Schnee von gestern, jetzt sei er Spielanwärter und blicke voller Freude nach vorne.

Ob er noch manchmal an ihr altes Zuhause dachte, fragte Jakob weiter. Hans bemerkte zum erstenmal, nach fast einem Jahr, daß er sein Zuhause fast vergessen hatte. Zu sehr hatte er sich an den Arbeitsrhythmus im Stadion gewöhnt. In dieser Nacht träumte Hans wehmütig von Zuhause. Von dem Ort, an dem er sich alles einfach so ohne Anstrengung nehmen konnte, an dem er niemanden um Erlaubnis fragen mußte und er keine Angst haben brauchte, etwas falsch zu machen. An dem es keine Strafen gab und er tun und lassen konnte, was immer er wollte.

Am nächsten Morgen wurden sie früh geweckt. Sie begannen den Tag mit einem Langstreckenlauf, dann folgte Sprungtraining. Anschließend mußten sie zum Krafttraining ins Fitneßstudio, danach hatten sie Balltechnik, später Spielregelkunde. Sie hatten nur eine knappe Stunde Mittag, und schon ging es weiter mit Lauftraining, Ballschußtechniken, Abwehrtechniken, Falltraining usw. usw.

Hans fiel abends wie tot ins Bett. Als er am nächsten Morgen geweckt wurde, hatte er das Gefühl, gerade erst die Augen geschlossen zu haben, so wenig erholsam war sein Schlaf. Noch nie hatte er körperlich so schwer geschuftet. Einen Monat lang fiel er jeden Abend völlig erschöpft ins Bett. Während die anderen noch ein wenig spielten oder sich ein paar Geschichten erzählten, war er einfach nur ausgelaugt und todmüde. Zum ersten Mal fehlte ihm die eine Stunde Schlaf. Ihm sei es auch nicht besser ergangen, tröstete ihn Jakob. Aber das gäbe sich bald.

Immer wieder kam es vor, daß einer der Jungen seine Sachen packte und den Raum verließ. Die einen stiegen dann zu Spielern auf, die anderen mußten wieder nach unten in die Putzkolonne oder mußten einen anderen Dienst antreten. Jede Woche wurde neu entschieden, wer bleiben durfte und wer gehen mußte. So strengte sich jeder an, so gut er konnte. Manchmal brach ein Junge auch völlig erschöpft zusammen und wurde in die Krankenstation gebracht. Das bedeutete natürlich ebenfalls das Aus für ihn.

Es herrschte ein rauher Ton unter den Spielanwärtern, auch wenn sie gerne miteinander spielten, so kämpfte doch jeder für sich. Jeder übte für sich an speziellen Tricks, die er vor den anderen geheim hielt. Als Hans sich ein wenig besser fühlte und ihn das Training nicht mehr so erschöpfte, fing auch er an, für sich zu üben. Bald hatte er sich ein paar Tricks angeeignet, mit denen er vor den anderen brillierte. Sie zollten ihm zwar große Anerkennung, aber Hans spürte auch ihren Neid. Ein Gefühl, das ihn noch lange begleiten sollte.

Jakob dagegen war nicht so sehr vom Training besessen. Trotzdem, wann immer sie Mannschaften für Trainingspiele zusammenstellten, wollten ihn alle in ihrem Team haben. Denn in aller Regel gewann seine Mannschaft. Und das, obwohl Jakob nur selten einen Ball schlug. Er hielt sich lieber im Hintergrund und dirigierte. Hans war sich unschlüssig, ob er ihn beneiden oder bewundern sollte. Meist aber wünschte er sich, so zu sein wie Jakob.

Eines Morgens wurde Hans sanft aus dem Schlaf gerüttelt. Jakob stand an seinem Bett, schon fertig angezogen, er wollte sich von Hans verabschieden. Er sei nun zu einem Spieler aufgestiegen und morgen sei sein erstes Spiel. Hans schnürte es die Kehle zu, wieder mußte er seinen Freund ziehen lassen und wieder war er alleine. Er brachte nur ein ersticktes "mach's gut" heraus, dann mußte Jakob auch schon los.

Hans setzte sich schlaftrunken in seinem Bett auf, Tränen liefen leise über seine Wangen. Würde er seinen Freund jemals einholen? Er mühte sich immer so ab, Jakob dagegen schien alles mit Leichtigkeit von der Hand zu gehen, so als hätte er an allem Freude. Hans hörte den Weckdienst kommen, schnell wischte er sich die Tränen ab und stellte sich schlafend.

An diesem Tag fiel ihm das Training schwer. Er fragte sich immer wieder, wofür er das alles machte, wofür er sich so plagte. Immer wieder huschten ihm Jakobs letzte Worte durch den Kopf: "Genieße den Augenblick! Sonst ist er vorbei und du hast ihn nicht erlebt." Wie sollte er den Augenblick genießen? Das Training war sehr anstrengend und ständig mußte er sich den anderen gegenüber behaupten. Manchmal war er eher froh, wenn er den Augenblick gar nicht wahrnehmen konnte.

Am nächsten Tag kehrte sein alter Elan zurück. Wie ein Besessener stürzte er sich ins Training und plötzlich gelang ihm zum ersten Mal ein ganz besonderer Balltrick, den selbst Profispieler nur selten beherrschten. Durch diesen Erfolg waren alle Bedenken wie weggeblasen, Hans fühlte sich zum ersten Mal seit langem wieder glücklich. Ja, Jakob hatte recht: Genieße den Augenblick!

Am Wochenende wurde Hans ausgewählt, zu ersten Mal in der Anwärtermannschaft mitzuspielen. In der ersten Halbzeit mußte er die Reservebank drücken. Vor Aufregung sprang er ständig auf und feuerte seine Mannschaft so lautstark an, daß ihn der Schiedsrichter mehr als einmal zur Ruhe gemahnte. Dann endlich, nach der Halbzeit wurde er gegen einen verletzten Spieler eingewechselt.

Wie ein Wiesel rannte er von einer Seite des Spielfeldes zur anderen. Es schien fast so, als wäre er gleichzeitig an allen Orten auf dem Spielfeld. Den Zuschauern fielen bald seine Leistungen auf und so feuerten sie ihn mit Zurufen und Applaus kräftig an. Hans wuchs über sich hinaus, und als er wieder den Ball zugespielt bekam, legte er wie entfesselt los. Er umlief sämtliche Gegner, bis er zuletzt nur noch den Torwart vor sich hatte. Da erinnerte er sich an einen Trick, den er bei einem großen Starspieler gesehen hatte, er täuschte mit links an und schoß dann rechts mitten ins Tor. Die Menge jubelte und seine Mitspieler feierten ihn. Hans war glücklich.

Die gegnerische Mannschaft allerdings war nun alarmiert und sie setzten einen ihrer größten Spieler gegen ihn an. Als Hans wieder mit dem Ball losstürmte, stellte sich ihm dieser Spieler entgegen und ließ ihn einfach auflaufen. Hans verspürte einen stechenden Schmerz im rechten Knie und sackte zusammen. In der Krankenstation stellte der Arzt fest, daß ein Kreuzband im Knie gerissen war. Es würde einige Zeit dauern, bis er wieder gehen könnte. Ob er jemals wieder spielen könne, erklärte ihm der Arzt mit besorgter Miene, sei fraglich.

Hans war verzweifelt, da war er so gut, da hätte er die Chance gehabt, endlich ein Spieler zu werden und dann so etwas. Ein dummer Kerl läßt ihn auflaufen und ruiniert seine Karriere. Beinahe, er war dem Ziel schon so nahe, wäre sein größter Wunsch in Erfüllung gegangen. Doch nun mußte so ein dummer Idiot das verhindern! Voller Wut und Enttäuschung über sein Unglück fiel Hans in einen tiefen Schlaf.

Während er schlief, erschien ihm Jakob im Traum, er sah wie Jakob an sein Bett kam, sein Bein anschaute und dann sprach: "Es ist dir passiert, weil du es so wolltest. Kein dummer Idiot, sondern du selbst bist dafür verantwortlich. Erst wenn du das erkennst, kannst du ein Spieler werden."

Tags darauf wurde er operiert. Als er aus der Narkose erwachte, berichtete ihm eine Krankenschwester, es sei alles gut verlaufen, er werde bald wieder laufen können. Und tatsächlich, sein Knie erholte sich schnell, fast zu schnell, dachte sich Hans, denn er genoß es, so von den Schwestern und Pflegern umsorgt zu werden. Es erinnerte ihn ein wenig an sein altes Zuhause, einzig er konnte nicht herumtollen.

Nach zwei Wochen war es endlich soweit. Er sollte zum erstenmal wieder aufstehen und gehen. Guten Mutes setzte er vorsichtig den Fuß auf den Boden, ein Pfleger hielt ihn am Arm fest. Als er dann freudestrahlend sein Bein belastete, durchzuckte ihn ein heftiger Schmerz und ließ ihn in sich zusammensacken. Als ob ihm jemand ein Messer in das Knie gerammt hätte, so fühlte es sich an. Sofort legte er sich zurück in sein Bett. Die nächsten Tage hatte er große Angst, es nochmals zu versuchen. Er hatte das Gefühl, er würde nie wieder gehen können.

Alle Ermunterungen der Pfleger und Krankenschwestern schlug er in den Wind. Zu groß war seine Angst, nie mehr gehen oder gar spielen zu können. So lag er zwei weitere Wochen im Bett und weigerte sich, aufzustehen. Seine Freunde und Mitspieler aus seinem Zimmer besuchten ihn, doch auch sie vermochten seine Lebensgeister nicht wecken.

Eines frühen Morgens ging die Türe auf. Hans erschrak, es war Victor, der Spieler, der zu ihm sagte: 'Nur Auserwählte werden Spieler!' Er kam herein und setzte sich an sein Bett. Lange saß er schweigend da, dann sprach er: Er sehe nicht den Jungen, der die beiden tollen Tore geschossen habe. Er sehe hier nur sein verängstigtes Abbild. Er habe es ihm schon mal gesagt: "Nur Auserwählte werden Spieler". Das spielerische Talent sei dabei nur ein geringer Teil. Disziplin und Selbstvertrauen würden einen wahren Spieler auszeichnen. Es läge alles an ihm. Nun beugte er sich nahe zu Hans herunter und sprach mit eindringlicher Stimme: "Du entscheidest, was du willst. Deine Gedanken bestimmen deine Welt."

Dann verließ er Hans wieder. Den ganzen Tag schoß dem nun der letzte Satz durch den Kopf: "Deine Gedanken bestimmen deine Welt". Hieß das etwa, daß er den Schmerz so spüren wollte? Hieß das etwa, daß er kein Spieler mehr sein wollte, daß er aufgeben wollte? Daß er den Schmerz als Alibi mißbrauchte, um nicht mehr spielen zu müssen? Es lief ihm heiß und kalt den Rücken runter.

Im nächsten Moment riß er die Bettdecke weg und setzte beide Beine auf den Boden. Er nahm allen Mut zusammen und stand auf. Sein Knie schmerzte höllisch, doch diesmal ignorierte er den Schmerz. Diesmal wollte er stärker sein. Langsam gegen die Wand gestützt schleppte er sich nach draußen zu den Schwestern. Die sahen ihn an, als wäre er ein Gespenst. Als er endlich bei ihnen angekommen war, bat er mit letzter Kraft um ein Glas Wasser und fiel dann ohnmächtig vor Schmerzen zu Boden.

Doch von nun an konnte ihn nichts mehr im Bett halten. Jeden Tag trainierte er, jeden Tag schmerzte sein Knie. Er ignorierte es. Bald schon konnte er wieder normal gehen, doch Hans war noch lange nicht zufrieden. Heimlich schlich er sich auf den Sportplatz und machte Laufübungen und Sprungtraining. An die Schmerzen in seinem Knie hatte er sich mittlerweile gewöhnt, er nahm sie überhaupt nicht mehr war.

Als er endlich aus der Krankenstation entlassen wurde, rief ihn sein Trainer zu sich. Der sagte ihm, man habe lange überlegt, vor allem weil er so herausragende Leistungen gezeigt habe, aber man sei zu der Überzeugung gekommen, daß es besser wäre, ihn nicht mehr spielen zu lassen. Auch der Arzt habe gesagt, sein Knie wäre nicht mehr hundert Prozent belastungsfähig.

Hans fühlte sich, als wollte man ihm den Boden unter den Füßen wegziehen. Alles, wofür er in den letzten Tagen und Wochen gekämpft hatte, sollte nun vergebens sein? Ungeheure Wut kochte in ihm hoch, und plötzlich, ganz außer Kontrolle, brüllte er seinen Trainer an: Nein, das könne er nicht machen. Er sei ein Spieler, und zwar einer der Besten! Er werde es ihnen allen beweisen.

Der Trainer zuckte erschrocken zusammen, solche Heftigkeit war er von Hans nicht gewohnt. Gleichzeitig war er aber begeistert, er spürte Hans' starken Ehrgeiz, seinen Glauben an sich. So gab er ihm eine Chance: wenn er binnen eines Monats seine alte Leistung wieder erreichen würde, dürfe er bleiben.

Hans trainierte wie ein Besessener, fiel er früher nach dem Training tot ins Bett, so fühlte er sich nun mausekatzentot. Oft schwoll vom anstrengenden Training sein Knie stark an. Dann nahm er einfach ein paar Schmerztabletten und trainierte weiter. Er würde es schon allen beweisen, wie gut er sei! Vor allem wollte er sich nicht von irgendeinem Idioten sein Leben kaputt machen lassen. Er wollte sein Ziel erreichen, koste es, was es wolle. Und so kam der Tag der Entscheidung. Hans sollte wieder spielen!

In der Nacht zuvor konnte er kaum schlafen, er wälzte sich ständig von der einen zur anderen Seite des Bettes. Wie er morgen wohl spielen werde? Ob es ihm gelingen werde, seine wahre Leistung zu zeigen? Er wußte, wenn er versagen würde, wäre sein Traum vom Spieler geplatzt. Wenn er auch nur einen Fehler machte, wären all die Anstrengungen der letzten Wochen und Jahre umsonst. Da erinnerte er sich an das Männchen, das ihm schon einmal half. Was wollte es noch? Eine Stunde Schlaf? Nun, so dachte sich Hans, auf eine Stunde könne er leichtens verzichten.

So sprach er die magischen Worte laut aus: "Ich will ein Spieler werden." Wieder öffnete sich aus dem Nichts eine Türe und Hans wie von Geisterhand geführt, schritt hindurch. Wieder rannte das kleine Männlein hektisch auf und ab und geiferte ihn an. Spieler wolle er diesmal also werden. Ob er sich das auch gut überlegt habe, er kenne ja seinen Preis. Doch doch, bejahte Hans seinen Wunsch, es sei ihm sehr ernst damit und es sei ihm eine Stunde Schlaf wert. Nun gut, so sei es, antwortete das Männlein, wünschte ihm noch viel Glück und verreit ihm einen ganz besonderen Spieltrick. Dann sagte Hans wie geheißen den Satz: "Ich bin ein Spieler!", die Türe öffnete sich und Hans war wieder zurück in seinem Bett.

Am nächsten Tag ließ ihn der Trainer erst in der zweiten Hälfte spielen, um ihn noch ein wenig zu schonen. Die ganze erste Halbzeit tigerte Hans aufgeregt am Spielfeldrand auf und ab. Würde er die Leistung bringen und was, wenn ihm wieder so ein Unfall passierte? Beklommen musterte er die Spieler der gegnerischen Mannschaft. Diesmal werde er besser aufpassen, schwor er sich. Diesmal werde er keinem mehr trauen, diesmal werde er seine Augen überall haben. Und diesmal, schmunzelte er in sich hinein, habe er einen ganz besonderen Trick auf Lager.

Als es endlich soweit war, spielte Hans zunächst sehr vorsichtig. Doch, einige der Zuschauer erkannten ihn wieder und jedesmal, wenn er nun am Ball war, feuerten sie ihn durch Zurufe an. So vergaß er schnell seine anfängliche Angst und war nach kurzer Zeit zurück in seinem alten Spiel. Wie ein Wiesel rannte er wieder über das Spielfeld, erkämpfte sich jeden Ball und ließ ihn sich nur selten abnehmen. Doch, wie gesagt, diesmal war er auf der Hut.

Als er schließlich den Führungstreffer erzielte, hatte er die Zuschauer wieder ganz auf seiner Seite. Und wieder versuchte ihn die gegnerische Mannschaft zu stoppen, sie setzten einen ihrer größten Spieler gegen ihn an. Als der ihn foulen wollte, kam Hans ihm zuvor. Er rammte ihm vom Schiedsrichter unbemerkt seinen Ellbogen in den oberen Bauch, so wie es ihm das Männlein geraten hatte. Wie ein Taschenmesser klappte der zusammen und mußte vom Platz getragen werden. Hans hatte ihn an der empfindlichsten Stelle im Bauch getroffen.

Am Ende ging seine Mannschaft als Sieger aus dem Spiel hervor und Hans wurde zum Helden des Tages erkoren. Zwar pochte sein Knie wie verrückt vor Schmerzen, doch er feierte noch lange mit seinen Kameraden in die Nacht hinein. Tags darauf rief ihn der Trainer zu sich und verkündete: das Spielergremium habe sich nun dazu entschlossen, ihn in den Status eines Spielers zu erheben. Sprich, er sei jetzt ein Spieler!

Also doch, triumphierte Hans innerlich, Fleiß und Disziplin zahlten sich aus. Freudestrahlend rannte er zu seinen Kameraden und verkündete die frohe Botschaft. Entgegen seiner Erwartung aber war ihre Freude über seinen Erfolg begrenzt, sie gratulierten ihm zwar, aber keiner teilte so recht seine Euphorie. Hans war enttäuscht, nach all den Anstrengungen hatte er mehr erwartet. Traurig packte er seine Sachen und zog eine Etage höher zu den Spielern.

 

Die Spieler hatten bereits Zimmer mit Fenstern nach draußen, sie hatten also normales Tageslicht in ihren Räumen. Auch waren sie nicht mehr mit elf anderen Jungen in einem Raum, sondern nur noch zu viert. Hans genoß sein neues, großes Bett und das Mehr an Platz. Am meisten jedoch genoß er das Tageslicht. Abends, wenn die Sonne langsam unterging, schien sie genau auf sein Bett. Dann döste er mit den letzten Sonnenstrahlen im Gesicht vor sich hin und erholte sich so vom Training.

Fürs Wochenende war ein großes Spiel angesetzt. Hans war zwar nur als Reservespieler eingeteilt, doch voller Hoffnung legte er noch ein paar Extraschichten nach dem allgemeinen Training ein. Er übte seine kleinen, verdeckten Tricks, um den Gegner im Falle eines Falles ausschalten zu können. Schließlich war er durch seinen Unfall gewarnt.

Am Tag des Spiels saß er wie angekündigt auf der Reservebank. Als die gegnerische Mannschaft einlief, stockte im das Herz. Da war Jakob wieder. Kaum daß er das Spielfeld betreten hatte, gab es ein lautes Raunen im Zuschauerraum, das sofort in heftigen Applaus überging. Jakob schien sich in die Herzen aller Zuschauer gespielt zu haben. Und er bedankte sich seinerseits für den Applaus mit fröhlichem Winken, so als liebe er sie alle.

Kaum war das Spiel angepfiffen, ging die gegnerische Mannschaft auch schon in Führung. Sie spielten so überlegen, als würden sie gegen Amateure spielen. Hans' Mannschaft fand keinen Rhythmus. Ständig verschlugen sie Pässe oder verloren den Ball. Als die gegnerische Mannschaft mit drei Toren in Führung lag, ging Hans zum Trainer. Er könne sie stoppen, sagte er. Und als der Trainer ihn ungläubig ansah, wiederholte er seinen Satz: "Ich kann sie stoppen!"

Er wußte, alle Kraft ging von Jakob aus. Er war die Seele seiner Mannschaft. Wenn er ihn ausschaltete, dann hätten sie noch eine Chance, zu gewinnen. Hans mußte sehr überzeugend gewirkt haben, denn bei nächster Gelegenheit wechselte der Trainer ihn ein. Er begrüßte Jakob kurz mit einem Handschlag, dann wechselte er sofort zurück zum Spieler, der um jeden Preis siegen wollte.

Er paßte eine günstige Gelegenheit bei einem Zweikampf um den Ball ab und rammte Jakob seinen Ellenbogen in den Bauch. Dem blieb die Luft weg, so daß er zu Boden stürzte und sich ein Bein brach. Nach außen saß es so aus, als wäre er bei der Rangelei über den Ball gestolpert. Er wurde auf einer Trage vom Platz getragen, und zur besseren Vertuschung kümmerte sich Hans liebevoll um seinen Freund. Jakob sah ihn an und lächelte: "Ich sehe, du hast dein Ziel gefunden. Aber paß auf, daß du dich dabei nicht verlierst. Denke daran, du bist keinem anderen Rechenschaft schuldig, außer dir selbst."

Danach spielte die gegnerische Mannschaft völlig kopflos. Ihr ganzer Elan, ihr ganzes Können war dahin. Hans' Mannschaft siegte schließlich mit zwei Toren Vorsprung, wovon Hans selber eines schoß. Abends bei der Feier war er ein weiteres Mal der Held des Tages. Natürlich ahnte jeder Spieler, daß er nicht ganz fair gespielt hatte. Doch sie wußten auch, keiner von ihnen hätte sich das getraut. Sie alle hatten zu große Ehrfurcht vor Jakob. Er war schon lange ein Starspieler und Starspieler waren normalerweise unantastbar.

Hans dagegen wußte genau, was er getan hatte. Obwohl die Spieler ihn ständig hochleben ließen, konnte er es nicht genießen. Mit jedem Jubelschrei wurde ihm das Ausmaß seiner Tat bewußter. Da hatte er doch tatsächlich seine Freundschaft für einen kurzen Augenblick des Ruhmes geopfert. Er hatte seinen besten Freund, ja seinen einzigen Freund, wie er bemerkte, für seinen Erfolg verraten. Wie sollte er ihm jemals wieder unter die Augen treten können?

Die nächsten Tage und Wochen vergingen mit Training und Spielen. Hans konnte sich immer besser in die Mannschaft einfinden, er war mittlerweile zu einem Stammspieler aufgestiegen, der grundsätzlich im Spiel eingesetzt wurde. Jakob sah er aber nicht mehr. Es lief das Gerücht, er habe sich nach dem Unfall aus der aktiven Spielerlaufbahn zurückgezogen. Doch keiner wußte etwas genaues. Keiner wußte, wo man ihn finden konnte.

So drückte Hans sein schlechtes Gewissen weiterhin. Es drückte ihn so sehr, daß er nur schwerlich einen lockeren Kontakt zu seinen Spielerkameraden aufbauen konnte. Er hatte immer das Gefühl, sie sähen in ihm nur einen zweitklassigen Spieler, der mit unfairen Mitteln arbeitete. Und tatsächlich schaltete er seine Gegner gerne mit solchen Mitteln aus, wenn sie zu stark wurden. Er hatte sich schließlich ein ansehnliches Repertoire dieser Tricks angeeignet, das er je nach Bedarf einsetzen konnte.

Natürlich sprach sich das schnell bei den gegnerischen Mannschaften herum und dementsprechend waren sie auch mit ihm nicht zimperlich. Da er aber ein brillanter Techniker war und all die kleinen Tricks kannte, konnte er gefährlichen Attacken meist rechtzeitig aus dem Weg gehen. Er erarbeitete sich schnell den Ruf, des "Unantastbaren", des "Unberührbaren".

Bald genoß er unter seinen Spielerkollegen großen Respekt. Sie hatten Angst vor ihm und sie beneideten ihn wegen seiner überaus geschickten Technik. Von überall her erhielt er Lob und Anerkennung. Wenn er den Platz betrat, applaudierten die Zuschauer. Bei jedem Lob, bei jedem Applaus schlug sein Herz schneller und er fühlte sich stolz und glücklich. Hinter seinem Rücken jedoch wurde viel getuschelt und jedesmal, wenn er etwas davon mitbekam, fühlte er sich schlecht. Oft kritisierten sie seine unkollegiale Art. Doch Hans wurde zu einem Meister im Weghören und Verdrängen.

Eines Tages rief ihn sein Trainer zu sich. Mit feierlicher Stimme verkündete er ihm, was nun gleich passieren werde. Gleich würde er von einem der obersten Funktionäre in den Stand eines Starspielers erhoben werden. Dies sei nicht nur für Hans eine Ehre, sondern auch für ihn als Trainer. Hans sei nun schon der fünfte Starspieler, den er hervorbrächte und somit würde er selbst zu einem Startrainer werden. Tränen traten in seine Augen und seine Stimme überschlug sich, als er das sagte.

Im nächsten Moment trat der Funktionär ein, gratulierte Hans zu seinen herausragenden Leistungen und ernannte ihn zum Starspieler. Feierlich erklärte er Hans die besonderen Privilegien, die er nun als Starspieler genoß:

Ein Starspieler bekam ein eigenes Appartement im ersten Stockwerk des Stadions. Darin hatte er einen Kühlschrank, Fernsehen und ein eigenes Bad. Er durfte kommen und gehen wann er wollte und er durfte seine Trainingszeiten selber bestimmen. Auch bekam er einen eigenen Trainer, einen Personaltrainer. Er trainierte natürlich noch mit den anderen zusammen die Spieltechniken. Doch psychologische Betreuung, mentales Training und vieles mehr, dafür hatte er ab sofort jemand nur für sich.

Hans war stolz und freute sich, ja er fühlte sogar einen Anflug von unbeschwerten Glück. Ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr gespürt hatte, denn jeder Sieg war von starken Schmerzen in seinem Knie und seinem schlechten Gewissen überschattet. Aber heute spürte er keine Schmerzen, heute spürte er Stolz über seinen Erfolg und er genoß ihn.

Als er sein altes Spielerzimmer betrat und seinen drei Mitbewohnern davon erzählen wollte, stoppte er. Zu gut erinnerte er sich an seine Enttäuschung beim letzten Mal, als er Spieler wurde. Er wußte, man würde ihm seinen Erfolg neiden, so packte er einfach nur seine Sachen und sagte kurz "Tschüß, ich zieh eins höher."

 

Auf den Stufen nach oben spürte er plötzlich einen so stechenden Schmerz im rechten Knie, daß er kurz strauchelte. Zum Glück sah es niemand. Doch gleichzeitig hörte er nochmals die letzten Worte des Funktionärs: er solle immer daran denken, der Status des Starspielers währe nur solange, wie er seine Leistung erbringen könne. Würde er schlechter werden, würde ihm der Status aberkannt und er müsse zu den normalen Spielern zurückkehren.

Er blickte die Stufen nach unten. Niemals, das schwor er sich bei allem, was ihm heilig war, wollte er dahin zurück. Koste es, was es wolle!

Am nächsten Tag sollte er seinen neuen Trainer kennenlernen, seinen Personaltrainer. Als die Türe aufging und der Trainer eintrat, wäre er am liebsten vor Scham im Boden versunken. Es war Jakob. Jakob war sein persönlicher Trainer. Hans wußte vor lauter Verlegenheit nicht, wo er hinsehen sollte. Da ging Jakob auf ihn zu und umarmte ihn. Ob er sich noch Vorwürfe wegen des Fouls mache, fragte er. Hans nickte und hielt den Kopf gesenkt. Wie sollte Jakob ihm das jemals verzeihen können?

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